Die Navigation auf See stellt uns vor eine grundlegende Herausforderung: Die Bewegung eines Schiffes wird nicht nur durch seine eigene Fahrt bestimmt, sondern auch durch die Strömung des Wassers, in dem es sich bewegt. Eine Strömung wird immer durch zwei Merkmale beschrieben: Richtung und Geschwindigkeit. Diese Eigenschaften machen die Berechnung der tatsächlichen Schiffsbewegung – also des Kurses über Grund (KüG) – etwas komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.
Ein Beispiel:
Stellen wir uns vor, unser Schiff fährt mit 6 Knoten nach Nordosten (Kurs 030°), während gleichzeitig eine Strömung mit 4 Knoten In Richtung Süden (Richtung 180°) wirkt. Um den Kurs des über Grund (KüG) zu berechnen, nutzen wir ein bewährtes Hilfsmittel: das Stromdreieck. Dieses Werkzeug erlaubt es uns, die beiden Bewegungen geometrisch darzustellen und präzise zu berechnen, wohin unser Boot tatsächlich steuert.
In den nächsten Abschnitten dieses Kapitels gehen wir Schritt für Schritt durch, wie man das Stromdreieck auf Papier zeichnet und welche Methoden der Vektorgeometrie uns helfen die Stromversetzung (BS) zu berechnen. Mit ein wenig Übung wirst du lernen, die Strömung zu beherrschen und deine Navigation noch präziser zu machen.
Grundprinzip und Anwendung
Das Stromdreieck basiert auf dem Prinzip der Vektoraddition. Es veranschaulicht, wie sich die Bewegung des Schiffes durchs Wasser und die Bewegung des Wassers selbst (die Strömung) zu einer resultierenden Bewegung über Grund zusammensetzen. Dabei werden alle Bewegungen als Vektoren dargestellt, die sowohl eine Richtung als auch einen Betrag (die Geschwindigkeit) besitzen.
Konstruktion und Berechnung
Die Berechnung von Strömungsversetzungen und Kursen mit dem Stromdreieck kann auf zwei Arten erfolgen: grafisch oder rechnerisch. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns ausschliesslich auf die grafische Methode, da sie eine anschauliche und leicht verständliche Herangehensweise bietet.
Bei der grafischen Methode werden die Vektoren – also die Fahrt durchs Wasser, die Strömung und die Fahrt über Grund – massstabsgerecht gezeichnet. Genaues Zeichnen ist hierbei entscheidend. Wir empfehlen daher dringend die Verwendung von Millimeterpapier, um präzise Ergebnisse zu erzielen. Zusätzlich erleichtert der Einsatz unterschiedlicher Farben die Orientierung:
· Blau: Fahrt durchs Wasser
· Rot: Strömung
· Grün: Fahrt über Grund
Die klare farbliche Trennung hilft, die verschiedenen Bewegungen besser zu verstehen und Fehler beim Zeichnen zu vermeiden.
Aufgabe 1:
Die erste und häufigste Frage lautet: "Wohin kommen wir?" Hier kennen wir unseren gesteuerten Kurs durchs Wasser (KdW) und unsere Geschwindigkeit durchs Wasser (FdW). Auch die Strömungsverhältnisse sind bekannt. Gesucht ist der tatsächliche Kurs über Grund (KüG) mit der entsprechenden Geschwindigkeit über Grund (FüG).
Bei der ersten Aufgabe ("Wohin kommen wir?") beginnen wir mit dem Einzeichnen des Vektors für die Fahrt durchs Wasser. Dieser Vektor repräsentiert Richtung und Geschwindigkeit des Schiffes relativ zum umgebenden Wasser. Von seinem Endpunkt aus zeichnen wir dann den Stromvektor ein, der die Bewegung des Wassers selbst darstellt. Die Verbindungslinie vom Ausgangspunkt zum Ende des Stromvektors zeigt uns schliesslich, wie sich das Schiff tatsächlich über Grund bewegt.
Aufgabe 2:
Die zweite typische Frage ist: "Wie müssen wir steuern?" In diesem Fall wollen wir einen bestimmten Kurs über Grund erreichen. Bei bekannter Strömung und geplanter Geschwindigkeit durchs Wasser suchen wir den erforderlichen Steuerkurs.
Die zweite Aufgabe ("Wie müssen wir steuern?") erfordert einen anderen Ansatz: Hier zeichnen wir zunächst den gewünschten Kurs über Grund ein - das ist die Richtung, in die wir letztendlich kommen wollen. Dann tragen wir den Stromvektor auf und bestimmen durch Abtragen der verfügbaren Geschwindigkeit durchs Wasser den erforderlichen Steuerkurs. Diese Konstruktion zeigt uns, wie stark wir gegen den Strom "vorhalten" müssen, um unser Ziel zu erreichen.
Aufgabe 3:
Die dritte Variante dient der Strömungsermittlung: Wenn wir sowohl unsere Bewegung durchs Wasser als auch die tatsächliche Bewegung über Grund kennen, können wir daraus Richtung und Stärke der Strömung bestimmen.
Bei der dritten Aufgabe (Strömungsermittlung) werden die bekannten Bewegungsvektoren durchs Wasser und über Grund vom gleichen Startpunkt aus eingezeichnet. Der Verbindungsvektor zwischen ihren Endpunkten offenbart dann die wirkende Strömung. Diese Methode ist besonders wertvoll, um die tatsächlichen Stromverhältnisse in einem Seegebiet zu ermitteln.
Mathematische Lösung:
Die rechnerische Berechnung erfolgt mithilfe trigonometrischer Formeln. Dazu werden die Vektoren in ihre Komponenten zerlegt und die resultierenden Komponenten addiert. Aus den resultierenden Komponenten kann dann der Betrag und die Richtung des Sollkursvektors berechnet werden.
Besonders in Gebieten mit starken Gezeitenströmen, wie etwa der Deutschen Bucht oder dem Englischen Kanal, ist die sichere Beherrschung der Stromdreieckskonstruktion unerlässlich für eine präzise Navigation.
Ein erfahrener Navigator wird die Ergebnisse der Stromdreieckskonstruktion stets im Kontext der gesamten Navigationssituation betrachten. Dabei spielen auch Faktoren wie Windeinfluss, Wassertiefe und eventuell vorhandene Navigationshindernisse eine wichtige Rolle. Die Stromdreieckskonstruktion ist damit ein wesentlicher Baustein im komplexen System der modernen Navigation.