Kapitel 9 - Ebbe und Flut

Zunächst lernen wir einige Begriffe:

 

Begriff

Beschreibung

Ebbe

die Zeit des zurückgehenden Wassers

Flut

die Zeit des ansteigenden Wassers

Hochwasser

der Zeitpunkt des höchsten Wasserstandes

Niedrigwasser

der Zeitpunkt des niedrigsten Wasserstandes

Tidenhub

die Höhendifferenz des Wasserstandes zwischen Hoch- und Niedrigwasser

 

Die Gezeiten gehören zu den beeindruckendsten Naturphänomenen unserer Erde. Während sie in der Ostsee kaum wahrnehmbar sind, zeigen sie im Mittelmeer bereits eine deutliche Wirkung: Bei Gibraltar können die Wasserstandsunterschiede zwischen Hoch- und Niedrigwasser etwa einen Meter betragen.

Deutlich dramatischer gestalten sich die Verhältnisse an der Nordseeküste. Wer mit einem Sportboot bei den Ostfriesischen Inseln unterwegs ist oder in der Berufsschifffahrt die nordfranzösische Küste befährt, muss mit Wasserstandsunterschieden von mehreren Metern rechnen. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dieses Phänomen bei St. Malo, wo zur Springzeit Differenzen von mehr als 10 Metern auftreten können.

Diese Wasserstandsschwankungen haben grosse praktische Bedeutung für die Schifffahrt: Ein Segler muss beispielsweise genau wissen, wie viel Wasser er bei Niedrigwasser noch unter dem Kiel hat, wenn er einen bestimmten Ankerplatz wählt. Zudem stellen auch die Gezeitenströmungen eine besondere Herausforderung dar. So können beim Cap de la Hague Strömungen mit mehr als 5 Knoten Geschwindigkeit auftreten - eine Kraft, die auch für grosse Schiffe nicht zu unterschätzen ist.

Aber wie entstehen diese beeindruckenden Naturkräfte? Stellen wir uns die Erde zunächst vollständig von Wasser bedeckt vor. Durch die Anziehungskraft des Mondes würden sich dann zwei "Wasserberge" bilden: einer auf der dem Mond zugewandten Seite und einer auf der gegenüberliegenden Seite der Erde. Ein Beobachter an einem festen Punkt würde durch die Erddrehung zweimal täglich einen besonders hohen Wasserstand (Hochwasser) und zweimal einen besonders niedrigen Wasserstand (Niedrigwasser) erleben.

In der Realität wird dieses theoretische Modell jedoch stark durch die tatsächliche Verteilung von Land und Wasser beeinflusst. Die Nordsee beispielsweise ist ein Randmeer, dessen Wassermassen verzögert mit dem Atlantik mitschwingen. Diese komplexen Zusammenhänge führen dazu, dass die Gezeitenerscheinungen von Ort zu Ort sehr unterschiedlich ausfallen können.

 

Entstehung der Gezeiten

Die Gravitationskräfte von Mond und Sonne sowie die Zentrifugalkraft des Erde-Mond-Systems sind die Hauptursachen der Gezeiten:

·       Mond: Der Mond hat den grössten Einfluss auf die Gezeiten, da er der Erde näher ist als die Sonne. Seine Anziehungskraft zieht das Wasser auf der erdzugewandten Seite an und bildet einen Flutberg. Auf der gegenüberliegenden Seite entsteht ebenfalls ein Flutberg, der durch die Zentrifugalkraft der Erdrotation verursacht wird.

·       Sonne: Die Sonne übt ebenfalls eine Anziehungskraft auf das Wasser aus, aber ihr Einfluss ist schwächer, da sie weiter entfernt ist. Wenn Sonne, Mond und Erde in einer Linie stehen, verstärken sich die Kräfte, was zu einer Springtide führt. Stehen sie in einem rechten Winkel, entsteht eine Nipptide, bei der die Gezeiten schwächer sind.

·       Zentrifugalkraft: Durch die Drehung des Erde-Mond-Systems um ihren gemeinsamen Schwerpunkt entsteht ein zweiter Flutberg auf der der Erde abgewandten Seite. Diese Rotation sorgt dafür, dass die Gezeiten regelmässig und vorhersehbar sind.

Durch das Zusammenspiel dieser Kräfte wechseln Flut und Ebbe in einem Zyklus von etwa 12 Stunden und 25 Minuten.

 

Der Einfluss der Erdrotation

Die Erdrotation beeinflusst den Rhythmus und die Ausprägung der Gezeiten:

·       Die Drehung der Erde unter den Flutbergen sorgt dafür, dass die meisten Orte zweimal täglich Flut und Ebbe erleben.

·       Die Rotation bewirkt ausserdem, dass die Zeiten für Hoch- und Niedrigwasser leicht variieren, abhängig von der geografischen Lage und den lokalen Bedingungen.

 

Die Vorhersage der Gezeiten

Die Gezeiten folgen einem regelmässigen Zyklus, der durch das Zusammenspiel der Anziehungskräfte von Sonne und Mond bestimmt wird. Dabei unterscheiden wir zwei besondere Gezeitenphänomene: die Springtide und die Nipptide.

·       Die Springtide tritt ein, wenn sich Sonne, Mond und Erde in einer Linie befinden, was bei Voll- und Neumond der Fall ist. In dieser Konstellation addieren sich die Anziehungskräfte von Sonne und Mond, wodurch sich besonders hohe Hochwasser und besonders niedrige Niedrigwasser ausbilden. Der Tidenhub - also der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser - erreicht dabei seinen maximalen Wert.

·       Die Nipptide beschreibt einen Zustand der Gezeiten, der auftritt, wenn Sonne und Mond von der Erde aus betrachtet im rechten Winkel zueinander stehen, was in den Phasen des ersten und letzten Viertels (Halbmond) der Fall ist. Während dieser Konstellation wirken die Gravitationskräfte von Sonne und Mond teilweise gegeneinander, wodurch sich die Gezeitenwirkung abschwächt. Dies führt zu deutlich schwächeren Gezeiten mit dem geringsten Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser (minimaler Tidenhub) im Verlauf des Mondzyklus.

·       Die Mittzeit beschreibt die Übergangsphase zwischen Spring- und Nipptiden im Verlauf des Mondzyklus. In dieser Zeit befinden sich die Tidenhübe im mittleren Bereich, da die Anziehungskräfte von Sonne und Mond weder maximal verstärkend (wie bei der Springtide) noch maximal abschwächend (wie bei der Nipptide) zusammenwirken. Die Mittzeit tritt etwa in den Tagen zwischen dem ersten und letzten Mondviertel auf und macht einen Grossteil des Gezeitenzyklus aus.

 

Ein interessantes Phänomen ist die sogenannte Springverspätung. Sie beschreibt die Tatsache, dass die stärksten Gezeiten nicht genau zum Zeitpunkt des astronomischen Voll- oder Neumondes eintreten, sondern erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Diese Verspätung hat mehrere Ursachen: Zum einen spielen die geografischen Gegebenheiten wie Küstenform und Wassertiefe eine wichtige Rolle. Die Wassermassen können aufgrund ihrer Trägheit nicht unmittelbar auf die veränderten Anziehungskräfte reagieren. Zusätzlich beeinflussen auch meteorologische Faktoren wie Wind und Luftdruck das zeitliche Eintreffen der maximalen Gezeitenwirkung.

 

Für die praktische Navigation ist das Verständnis dieser Gezeitenarten und ihrer Charakteristika von grosser Bedeutung, da sie direkten Einfluss auf Wassertiefen und Strömungsverhältnisse haben.

 

Der Tidenhub

Der Tidenhub bezeichnet den Höhenunterschied zwischen aufeinanderfolgenden Hoch- und Niedrigwasser. Die geografischen Gegebenheiten spielen eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung der Gezeiten. Zwei Faktoren sind dabei besonders wichtig: Die Form der Küste und die Wassertiefe des Meeres.

 

·       Trichterförmige Küstenformen: Besonders in Buchten oder Flussmündungen mit trichterförmiger Geometrie wird die ankommende Flutwelle kanalisiert und verstärkt. Die Verengung des Gewässers erhöht die Wellenamplitude, wodurch der Tidenhub steigt.

·       In flachen Gewässern breiten sich Gezeitenwellen langsamer aus als in tiefen Bereichen. Diese Verzögerung führt dazu, dass sich die Wellenenergie staut, was einen Anstieg des Wasserpegels zur Folge hat.

Zusätzlich kann die meteorologische Lage, insbesondere starke Winde und Stürme, einen erheblichen Einfluss auf den Tidenhub haben. Durch stürmische Wetterverhältnisse kann das Wasser weiter landeinwärts gedrückt werden und es kommt zu Sturmfluten, bei denen der Tidenhub deutlich grösser ausfällt als bei ruhigen Wetterbedingungen.

 

Beispiele für Regionen mit hohem Tidenhub in flachen Gewässern:

·       Nordseeküste: An der deutschen Nordseeküste beträgt der Tidenhub etwa 2 bis 3 Meter. In den Flussmündungen (Elbe, Weser) kann er aufgrund der Trichterwirkung sogar über 4 Meter erreichen.

·       Bay of Fundy, Kanada: Diese Bucht ist bekannt für den weltweit grössten Tidenhub, der bis zu 15 Meter betragen kann. Die trichterförmige Geometrie und die flache Topografie der Bucht tragen wesentlich zu diesem extremen Tidenhub bei.

 

Das Kartennull

Das Seekartennull (SKN) ist die Bezugsfläche für alle Tiefenangaben in einer Seekarte. Es handelt sich um einen festgelegten Wasserstand, der so gewählt ist, dass der tatsächliche Wasserstand nur in den seltensten Fällen darunter sinkt. In Gezeitengewässern, wie z.B. der Nordsee, wird der niedrigste mögliche Gezeitenwasserstand (LAT – aus dem Englischen "Lowest Astronomical Tide") als Kartennull verwendet. In Revieren ohne Gezeiten (weniger als 0.3 Meter), wie der Ostsee, entspricht das Kartennull dem mittleren Wasserstand.  

Das Kartennull ist in jeder Seekarte angegeben. Diese Angabe ist wichtig, um die tatsächliche Wassertiefe zu ermitteln. Dazu müssen wir die Höhe der Gezeit zur Kartentiefe addieren.  

Das Seekartennull darf nicht mit Normalhöhennull (NHN) verwechselt werden, das für Landkarten verwendet wird.

Das Kartennull spielt in vielen Situationen auf See eine wichtige Rolle. Hier sind einige Beispiele:

·       Ankern in Tidengewässern: Wenn sie in einem Gebiet mit Gezeiten ankern möchten, müssen Sie die Höhe der Gezeit berücksichtigen, um sicherzustellen, dass ihr Boot bei Niedrigwasser nicht auf Grund läuft. Anhand des Kartennulls und der Gezeitentabelle können Sie die Wassertiefe zum Zeitpunkt des Ankerns und bei Niedrigwasser berechnen.  

·       Passieren von Untiefen: Bei der Planung Ihrer Route müssen sie die Kartentiefe von Untiefen mit der Höhe der Gezeit vergleichen, um sicherzustellen, dass genügend Wassertiefe vorhanden ist. Auch hier ist das Kartennull die entscheidende Bezugsgrösse.  

·       Ermittlung der tatsächlichen Wassertiefe: Um die tatsächliche Wassertiefe an einem bestimmten Punkt zu ermitteln, müssen sie die Kartentiefe mit der Höhe der Gezeit addieren. 

 

 

Begriff (Deutsch)

Begriff (Englisch)

Erklärung

Kartennull (SKN)

Chart Datum (CD)

Bezugsfläche für Wassertiefen in Seekarten

Niedrigster möglicher Gezeitenwasserstand (LAT)

Lowest Astronomical Tide

Bezugsfläche für Wassertiefen in Seekarten

(entspricht dem SKN)

Kartentiefe

Depth

Auf das Kartennull bezogene Wassertiefe

Wassertiefe

Depth of water

Tatsächliche Wassertiefe an einem bestimmten Punkt

Gezeit

Tide

Wasserstandsschwankungen aufgrund der Anziehungskraft von Mond und Sonne

Normalhöhennull (NHN)

Ordnance Datum (OD)

Bezugsfläche für Landkarten

Mittleres

Hochwasser (MHW)

Mean High Water

(MHW)

Mittleres Hochwasser

Mittleres Niedrigwasser (MNW)

Mean Low Water

(MLW)

Mittleres Niedrigwasser

Springtidenhub

Spring tidal range

Unterschied zwischen Hochwasser und Niedrigwasser bei Springtide

 

 

 

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